Will die Schweiz „Zwangsbio“?

Die direkte Demokratie der Schweiz wird oft als Vorbild für die Einbindung der Bevölkerung in politische Entscheidungsprozesse genannt. Sie ist aber stark von Emotionen getrieben, wie geplante Abstimmungen über Verbote von Pflanzenschutzmitteln zeigen.
„Der Einsatz synthetischer Pestizide in der landwirtschaftlichen Produktion, in der Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und in der Boden- und Landschaftspflege ist verboten. Die Einfuhr zu gewerblichen Zwecken von Lebensmitteln, die synthetische Pestizide enthalten oder mithilfe solcher hergestellt worden sind, ist verboten.“ Geht es nach den Betreibern der eidgenössischen Volksinitiative „Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide“ könnte dieser Text bei unseren westlichen Nachbarn bald verbindlich sein. Wahrscheinlich im März 2021 sind die Bürger dazu aufgerufen, über ein Totalverbot aller nicht in der Natur vorkommenden Pflanzenschutzmittel zu entscheiden. Parallel dazu wird auch über eine „Initiative für sauberes Trinkwasser“ entschieden, die Bauern nur noch dann Subventionen zugestehen will, wenn sie unter anderem „pestizidfrei“ produzieren. Das umfasst beispielsweise auch Pflanzenschutzmittel, die in der biologischen Landwirtschaft eingesetzt werden, und Reinigungsmittel, die beispielsweise in der Stallhygiene Verwendung finden.
Möglich ist dies, weil in der Schweiz dem Volk jedes Anliegen, für das mehr als 100.000 Unterstützer gewonnen werden, zur Abstimmung vorgelegt werden muss. „In Zeiten der Digitalisierung ist es viel einfacher geworden, so viele Unterschriften zusammenzubringen“, erklärt der Geschäftsführer des Landwirtschaftlichen Informationsdienstes, LID, Markus Rediger. Gerade rund um die Qualität des Trinkwassers habe es in den letzten Jahren einen Hype gegeben, der beinahe religiöse Züge angenommen hat. „Dabei überwiegen oft Meinungen die Wissenschaft.“ Dem pflichtet der Landwirtschaftsjournalist Adrian Krebs bei: „Wir Schweizer sind stolz auf unser Hahnenwasser, das man überall bedenkenlos trinken kann. Und wer will schon gegen sauberes Trinkwasser sein?“ Dementsprechend hoch sind in Umfragen die Zustimmungsraten zu den Initiativen.
Die Landwirtschaft wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die drohenden Einschränkungen. Zahlreiche Kampagnen sollen die Nachteile eines Verzichts auf viele chemische Substanzen aufzeigen. Immerhin käme ein Totalverbot einem Zwang zur biologischen Landwirtschaft gleich. „Eigentlich reden wir sogar von Bio minus, weil auch Produkte wie Kupfer und Schwefel synthetisiert werden und damit verboten wären“, meint Regina Ammann, die beim in Basel ansässigen Agrochemie-Riesen Syngenta für Public Affairs zuständig ist. Dabei ist der Inlandsmarkt für Bio-Produkte bei Erzeugnissen wie Milch oder Gemüse heute schon gesättigt. Wie sich ein Land, das schon ewig auf Importe angewiesen ist, mit leistbaren Lebensmitteln versorgen will, wenn auch gewerbliche Einfuhren konventioneller Ware verboten sind, ist eine spannende Frage. „Die Preise für Nahrungsmittel liegen heute schon bis zu 70 Prozent über dem Niveau der Nachbarn“, so Ammann.
Genau das ist der Pferdefuß beider Initiativen. Keine sieht nämlich ein Verbot für Privatimporte zum Eigenbedarf vor; die Trinkwasserinitiative nicht einmal ein Verbot für gewerbliche Einfuhren. „80 Prozent der Schweizer leben weniger als eine Stunde Autofahrt von der Grenze entfernt. Ganze Städte in Deutschland haben sich schon auf den Einkaufstourismus von Schweizern spezialisiert“, erklärt Adrian Krebs. Der nochmals höhere Unterschied bei den Preisen wird den Grenzverkehr weiter befeuern. Der Bauernverband rechnet, dass eine Umsetzung der Initiative einem weiteren Drittel der ohnehin nur noch 50.000 Schweizer Landwirtschaftsbetriebe (in Österreich sind es rund 160.000) die Existenz kosten würde. Für die meisten Bauern gibt es im Falle des Falles gar keine andere Wahl als auf die meisten Pflanzenschutzmitel zu verzichten, weil sie auf die Gelder von der öffentlichen Hand angewiesen sind. Darüber hinaus fordert die Trinkwasser-Initiative allerdings auch einen Verzicht auf betriebsfremde Futtermittel. Das würde auch Bergbauern, die weniger auf Chemie angewiesen sind, massiv treffen.
In manchen Sparten gibt es dafür durchaus Betriebe, die ihre Produktion intensivieren, auf Teufel komm raus produzieren und dafür schlicht auf Subventionen verzichten würden, weil diese ohnehin nur einen relativ geringen Anteil ihres Einkommens ausmachen. Das bestätigt auch der Obstbauer Ernst Lüthi aus Ramlinsburg im Kanton Baselland. Er verkauft die Ernte von 13 Hektar Kernobst-, Steinobst- und Beerenanlagen großteils über einen Abhof-Laden und ist Präsident des Forums Obstbau. „Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich die Zahlungen nicht unbedingt brauche. Ein echtes Problem hätte ich nur bei einem gänzlichen Pestizidverbot, weil die Alternativen wissenschaftlich noch nicht ausreichend abgesichert sind.“ Denn das Tal, über dem sein Hof liegt, ist vergleichsweise feucht. Das würde bei Krankheiten Schwierigkeiten machen. „In der Schweiz soll weiterhin qualitativ hochwertiges Obst produziert werden. Die Landwirtschaft muss leistungsorientiert bleiben“, meint Lüthi.
Dass ein Verzicht auf synthetischen Pflanzenschutz Ertragsrückgänge von bis zu 40 Prozent und bei manchen Kulturen sogar Totalausfälle nach sich ziehen würde, ist eine der Kernaussagen der Kampagnen, die diverse Bauern- und Industrieverbände lancieren. So betreibt etwa Syngenta gemeinsam mit seinem Konkurrenten Bayer die Website www.swiss-food.ch, um den Benefit von Pflanzenschutzmitteln aufzuzeigen. „Damit wollen wir Halbwissen bekämpfen und Aufklärung betreiben.“ Nicht zuletzt ist die Schweiz auch ein wichtiger Standort für agrochemische Forschung. Sollte es gerade hier ein Technologie-Verbot geben, wäre das ein unmissverständliches Signal, dass der investitionsfreudige Sektor in der Eidgenossenschaft nicht mehr erwünscht ist. Regina Ammann rechnet vor: „Der Heimmarkt ist ohnehin relativ klein und macht nur etwa 0,2 Prozent des Konzernumsatzes aus. Wir geben aber 13 Prozent unseres Geldes hier aus.“
Wie die Abstimmungen ausgehen werden, steht in den Sternen. Die aktuell hohen Umfragewerte sind laut LID-Geschäftsführer Markus Rediger nicht unbedingt ein Indikator: „Die Zustimmung bricht vor den Referendumsterminen meist zusammen. Auch die meisten Parteien in der Bundesversammlung sind gegen solche radikalen Einschränkungen.“ Vor einer Umsetzung wären deshalb noch Abschwächungen durch die Politik zu erwarten. Allerdings sei der Einfluss der einseitigen Berichte in den Publikumsmedien nicht zu unterschätzen. Der Brancheninsider Adrian Krebs glaubt eher nicht, dass es letztlich zu einem Ja zu einer der beiden Initiativen kommt: „Allerdings wird parallel gerade die Reform der Agrarpolitik 2022 + (ähnlich der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU, Anm.) verhandelt. Gewisse Elemente der Begehren werden da wohl als Vorgabe für die Direktzahlungen aufgenommen, um auf die Forderungen der Initiatoren einzugehen.“

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